Nahtlos

© by Balthasar Luenebelt

Tauwetter hatte eingesetzt.
Trotz größter Anstrengung war es kaum möglich, bei jeglicher Art der Fortbewegung eine einigermaßen akzeptable Körperhaltung zu bewahren.
Mir sollte es nicht gelingen. Ich erwachte in einem mir unbekannten Bett in einem mir ebenso unbekannten Raum.
Mein Blick tastete über kahle Wände. Mein Körper signalisierte höchste Alarmbereitschaft.
Wo befand ich mich?
Der erste reflexartige Versuch mich zu erheben erstarb unter heftigen, stechenden Schmerzen, die wie ein stark angeschnittener Spielball durch meine Eingeweide schossen.
Tilt. Game Over. Nichts ging mehr.
Hart aufgeschlagen blieb ich, rasch atmend, wie ein mit irgendetwas in der Luft kollidierter Käfer steif auf dem Rücken liegen.
Schmerzen strömten nun durch die Gliedmaßen, die sich gerade noch aktiv am Fluchtversuch beteiligt hatten.
Sie waren also noch da. Alle?
Einen erneuten Bewegungsversuch verschob ich, angesichts der soeben erlebten extremen Schmerzerfahrung, auf einen noch unbekannten, späteren Zeitpunkt.
Während mein Gaumen eher einer durchschnittlichen Wüstenlandschaft glich, meldete sich weiter unten in mir das dringende Bedürfnis, jetzt nicht mehr benötigte Flüssigkeit abgeben zu müssen.
Rechts neben mir nahm ich etwas pendelndes, schwingendes wahr.
Beim Versuch, danach zu greifen musste ich feststellen, dass es ein dünner, transparenter Schlauch war, der meinen rechten Unterarm mit einer über mir hängenden Ampulle verband, aus der eine durchsichtige Flüssigkeit stetig in meinen Körper tropfte.
Kaffee wird es also keinen geben, dachte ich spontan bei mir und überlegte gleichzeitig angestrengt, wie ich erst einmal den von gestern problemlos entsorgen könnte.
Langsam wurde mir Heiß in meiner Haut.
Aus dem kribbeln in der Leistengegend war nun ein bedrohliches Brennen geworden und meine Blase schien ihren maximalen Füllstand bereits bedenklich überschritten zu haben.
Sammelten sich bereits Schweißperlen auf meiner Stirn?
Was tun? Der von außen an die Fenster prasselnde Regen erleichterte mir mein Dasein auch nicht wirklich.
Laufen lassen? Ich schloss die Augen und versuchte mich abzulenken, während mein Ablassventil unter der Bettdecke jeden Augenblick zu platzen drohte.
Was konnte ich tun? Rufen? Schreien? Oder laufen lassen?
Einfach die wohlige Erleichterung zwischen Bauch und Oberschenkel lauwarm genießen?
Dämmerung.
Tags zuvor, nachmittags, kurz vor abends. Feierabends.
Ich hatte mir fest vorgenommen, pünktlich zu sein.
Während ich meine überall im Raum verteilten Utensilien zusammenraffte, begann es draußen wild und hemmungslos zu schneien.
Die für heute angekündigte Schneefallgrenze von 800 Metern hatte sich schlagartig auf die Schnitthöhe eines frisch gemähten Rasens eingependelt und begann, alle Verkehrswege im erreichbaren Umfeld unpassierbar zu machen.
Was nun? Unbeachtet meines einstigen Vorhabens entschloss ich mich, zu bleiben wo ich war.
Ohne Winterreifen am Fahrzeug und ohne wärmende Winterbekleidung wäre ich ohnehin dazu verurteilt gewesen, irgendwo nach einem Zusammenstoß mit wer weiß schon wem in einer Schneewehe zu erfrieren oder gar jämmerlich in einem halb zugefrorenen Dorfteich zu
ertrinken.
Was blieb mir übrig? Öffentlicher Nahverkehr? Fuhr nicht.
Nicht um diese Zeit, und schon gar nicht bei jedem Wetter.
Zu Fuß? Telefon. „Ja, genau. Keiner mehr da. Nur ich. Also keiner“.
Die Geschäftsleitung hatte das Haus bereits vor Stunden verlassen. Geschäftsessen, ganz offiziell.
Waren wahrscheinlich schon beim Dessert. Oder bei den Cocktails, oder im Whirlpool, oder so.
Was weiß ich. War ich allein im Haus?
Nicht alle hatten mit Begeisterung auf die – Etwas andere Art einer Objektbesprechung im kleinen Kreise – betitelte Einladung des Vorstandes reagiert, mit der diese, wegen ihrer erhöhten Geheimhaltungsstufe, in die Saunalandschaft des ortsansässigen Golfklubs
bestimmt wurde.
Ohne weiter darüber nachdenken zu wollen begab ich mich auf den Korridor, an dessen Ende mich eine Wendeltreppe in die oberen Räume führte, in denen die Verwaltung und dessen Vorstand samt ihrer extravaganten Ruheräume mit angrenzendem Marmorbad
untergebracht waren.
Vierzig mal sechzig Zentimeter. Naturweiß, mit handgesticktem Emblem.
Mehr sollte nicht mitgebracht werden, nur dieses vierzig Mal sechzig Zentimeter große Gästetuch eben, naturweiß mit handgesticktem Emblem der Firma, welches alle im letzten Winter als Weihnachtsgratifikation erhalten hatten.
Mehr nicht. Keine Unterlagen, wie üblich. Nichts schriftliches jedenfalls.
Halt nur diese naturweißen vierzig mal sechzig Zentimeter mit handgesticktem Emblem der Firma.
Stand so in der Einladung. Oder so ähnlich.
Schatten huschten über den Boden. War ich wirklich allein im Haus?
Ein Mann, der im Halbschatten vor dem Besucherzimmer stand, schien sich ruckartig zu drehen, als wäre er, in der Hoffnung unbemerkt zu bleiben, bei irgendetwas verbotenem überrascht worden.
Der Schlagartig in meinem Hals entstandene Kloß raubte mir den Atem.
Noch im Sprung erkannte ich, dass es Hut und Mantel waren, die im Windzug eines offen gebliebenen Fensters am Garderobenharken stetig hin und her schlugen.
Durch die in den letzten Minuten hereingeschneiten Schneemassen wurde unser Sturz nur bedingt gebremst und das bersten des hölzernen Garderobenständers klang verdächtig nach splitternden Knochen und Wirbeln.
Der kalte Schnee in meinem erhitzten Gesicht brachte mich, relativ schnell, in die Realität zurück.
Während ich mich, schwer atmend, vom zerbrochenen Garderobenständer lösend am offenen Fensterflügel hochzog, flackerte über mir das kalte Neonlicht der soeben eingeschalteten Deckenbeleuchtung.
Meine sofort eingeleitete Körperdrehung scheiterte an dem Umstand, dass sich mein rechtes Hosenbein an den Splittern des Kleiderständers verbissen hatte, worauf ich mich erneut in der horizontalen befand.
Irgendetwas griff nach mir und ließ auch trotz heftigster Gegenwehr meinerseits nicht von mir ab.
Obwohl ich mehrfach den Eindruck hatte, dem Komplizen des mit Mantel und Hut bekleidetem Garderobenständers so gut wie alle Finger gebrochen zu haben – so oft knackten dessen Gliedmaßen unter meinen verzweifelten Abwehrgriffen – ließ dieser doch keine Spur
lockerer und verbiss sich nur noch heftiger in meiner Kleidung wie in meinen Haaren.
Erst als sein schwerer, tönerner Übertopf krachend auf meinem Rücken auseinander platzte, ließ mein übermächtiger Gegner von mir ab und gab sich geschlagen.
Benommen erhob ich mich, die sterbenden Überreste unseres Ficus-Benjamini-Bäumchens achtlos mit dem Fuß beiseite schiebend, um mich sofort wieder auf der in unmittelbarer Nähe stehenden Sitzgruppe niederzulassen, von wo aus ich endlich die grelle
Deckenbeleuchtung wieder ausschalten konnte.
Da niemand in Panik verfiel und auch sonst niemand irgendwie extrem reagierte, musste ich wohl selbst – oder gar der Hut tragende Holzständer – den Lichtschalter beim gemeinsamen Sturz mit einem unserer herausragenden Teile betätigt haben.
Um nicht im Dunkeln zu sitzen entschloss ich mich, die vollgefüllte, auf dem Besuchertisch stehende Duftpetroleumlampe anzuzünden, welche eine feierliche Atmosphäre verbreitete.
War wohl nichts! Irgendwie hatte ich mir alles etwas anders vorgestellt, nach Feierabend.
Grünkohl sollte es geben, den ersten in diesem Winter.
Kräftig und dunkelgrün hatte er dem ersten Nachtfrost getrotzt.
Gerade rechtzeitig, um heute Abend auf meinem Teller zu landen.
Wird morgen wohl kaum noch etwas übrig sein davon, wenn die anderen erst einmal zugeschlagen haben.
Mit Kasseler, Bregenwurst oder Mettenden und dazu Kroketten, Bratkartoffeln oder selbst gestampfter, butterweicher Kartoffelpüree.
Lecker. Blieb aber nie was von übrig. Jedenfalls nicht wirklich.
Ein heftiger Windstoß ließ mich frösteln und erinnerte mich erbarmungslos an das immer noch offenstehende Fenster.
Mumienhaft erhob ich meinen schmerzenden Körper und steuerte diesen in Richtung der Schneewehe, als mich der Lichtstrahl eines Fahrzeuges mit eingeschaltetem Fernlicht blendete, welches langsam auf dem Firmenparkplatz wendete.
Unbeirrt voranschreitend erreichte ich, blind wie ich nun war, das Fenster, dessen Offenheit mich nun, nach einem dreifachen Rittberger auf der angetauten Schneewehe, nach draußen geleitete.
Wenigstens schneite es jetzt nicht mehr. Dafür setzte Regen ein. Eisregen.
Mein ungeplanter und dadurch ungalanter Fenstersturz wurde durch die auf dem äußeren Fenstersims stehenden, tiefgefrorenen Geranien gebremst.
Trotz der jetzt auf meinen Schultern entstehenden Eisschollen schaffte ich es nicht, in eine unter mir stehende, überlaufend volle Regentonne zu stürzen, um eiskalt darin zu versinken.
Mit letzter Kraft zog ich meinen blaugefrorenen, nicht mehr spürbaren Rest an Menschsein durch den offenen Rahmen, um gleich dahinter auf der eiskalten Heizung, die sich selbst zur Nacht gedrosselt hatte, liegen zu bleiben.
Dämmerung.
Tags darauf, vormittags, kurz vor morgens. Frühmorgens.
Der Frostwächter der Heizungsanlage hatte reagiert und schlimmeres verhindert.
Ich lag nun vor dem Heizkörper, in einer Pfütze aus Schmelzwasser, und fror wie ein Baby, welches gerade erst den schützenden Bauch der Mutter verlassen musste.
Verlassen war gut. Erst einmal dieses Gebäude verlassen. Aber dazu musste ich mich erheben.
Komplett, der ganze Körper und nicht nur vereinzelte Gliedmaßen mussten sich dazu regen.
Kriechend erreichte ich den Besuchertisch, um mich beim aufstehen daran abzustützen, was mir auch gelang.
Dass ich dabei die Tischdecke, samt allem, was sich auf ihr befand, Richtung Fußboden beförderte, bekam ich im Siegesrausch meiner geglückten Erhebung nicht mehr mit.
Nur weg. Weit weg, wo dich keiner kennt. Nach Hause.
Steifen Schrittes, wie ein Seemann ohne Hafen, steuerte ich mich hinunter und dann geradewegs hinaus auf die Straße.
Tauwetter hatte eingesetzt. Auch mit größter Anstrengung war es mir nicht möglich, eine einigermaßen akzeptable Körperhaltung zu bewahren.
Die eintreffenden Sanitäter hatten, trotz des noch ausstehenden Sonnenaufgangs, keine Mühe, mich im grellen Schein der aus einem nahen Bürogebäude herausschlagenden Flammen zu bergen.
Dämmerung.
Ich erwachte …

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